Terror vom Rässebüel

KE. Nur ein paar Schritte vom Schnittpunkt der Grenzen von Goldach, Mörschwil und Tübach – von der »Blumenhalde« bis zur Rorschacherstraße und zum Schlipf – dehnt sich eine weite, beinahe topfebene Wiese. Sie gehört fast ausschließlich zur Gemeinde Tübach. Heute wird das Gebiet am ehesten »bi de Waldegg« oder »bi de Bluemehalde« genannt. Der einstige Name »Raessenhuob« ist erloschen. So hieß bereits 1402 die Bauernsiedlung, deren Bewohner hier ackerten. Länger als das Bauerngut »Rässehueb« selbst blieb noch der Name »Rässebüel« oder »Rässebüchel«. Im 21. Jahrhundert bewahrt einzig das Rässehuebbächlein den Namen. Es fließt den Nordhang des Rässebüels hinunter und durch die Sportanlage Kellen bis zur Goldach, es bezeichnet die Grenze zwischen Tübach und Goldach.

Drei-Gemeinden-Grenzpunkt bei Blumenhalde

Flach wie heute war das Gelände früher nicht, es war geprägt von kleinen grasbewachsenen Sand- und Kieshügeln, noch um 1880 gab es hier sogar einen kleinen Weinberg. Woher kommt der eigenartige Name? »Räss« hat nach dem Schweizer Dialektwörterbuch (Idiotikon) viele Bedeutungen. Es bedeutet etwa »scharf, salzig« wie beim »rässen« Appenzeller Käse, aber auch von einer Straße kann gesagt werden, sie steige räss an, verlaufe also steil. Besonders steil ist der Anstieg zum ehemaligen Rässebüel von Tübach und von der Bruggmühle her dank der von Generationen ausgebauten Straßen nicht mehr, nur der Weg von der Goldach hinauf zur »Blumenhalde« ist für Fußgänger oder Radfahrer räss wie eh und je.

Der Rässebüel von der Goldacher Abfleckenstraße her – wirklich »räss«

Idyll an der Bahnlinie
Mitten durch den Rässebüel, im satten Grün gutgedüngter Wiesen kaum zu erkennen, läuft der Einschnitt der Bahnlinie von Rorschach nach St. Gallen. Von der »Blumenhalde« her leicht zugänglich liegt etwas versteckt ein Aussichtspunkt direkt oberhalb der Stelle, wo die Bahn das Eisenbahnviadukt hoch über die Goldach erreicht. Dort bietet sich ein prächtiger Blick nicht allein auf den Kern von Goldach und die Kirche, sondern weit über den ganzen südöstlichen Bodensee und auf die ihn umrahmenden Hügel- und Bergketten: vom Pfänder über die vorarlbergisch-bayerische Nagelfluhkette mit dem Hochgrat bis zum langgezogenen Rorschacherberg. Die Fern- und Nahverkehrszüge, die fast alle fünf Minuten schnell und leise vorbeisirren, stören wenig, sie machen im Gegenteil deutlich, dass sich dem Auge von hier aus ein Idyll des 21. Jahrhunderts darbietet – Technik inbegriffen.

Aussicht vom »Rässebüel« Richtung Goldach und Bregenz

Eisenbahndenkmal Goldachviadukt
Die ersten Lokomotiven dampften hier 1856, lärmig, langsam, und aus ihren hohen Kaminen Holzqualm ausstoßend. Pro Tag waren es zuerst insgesamt zwölf Personenzüge, sechs in jede Richtung, dazu kamen Güterzüge. Auf der Strecke von Rorschach bis St. Gallen gab es nur einen einzigen Zwischenhalt, jenen in Mörschwil. Die Fahrzeit für die 15 Kilometer lange Strecke betrug aufwärts 43, abwärts 33 Minuten. Von Rorschach bis St. Gallen hätten die schnellsten Marathonläufer des 21. Jahrhunderts genau mithalten können.
Die Eisenbahnstrecke zwischen St. Gallen und Rorschach war in weniger als drei Jahren seit Anfang 1854 angelegt worden, erst im Oktober 1853 hatte die St. Galler Kantonsregierung den Linienverlauf gebilligt. Der Bau der Strecke war besonders anspruchsvoll zwischen Goldach und St. Fiden. Zahlreiche Dämme und Einschnitte, Brücken und Unterquerungen mussten errichtet werden. Noch ganz auf Goldacher Boden entstand ein Werk, das heute ein Baudenkmal von nationaler Bedeutung ist: die 77 Meter lange, von fünf Steinbogen getragene Brücke über die Goldach. Vorausschauend hatte man sich beim Bau für eine Breite entschieden, welche eine zweite Bahnspur möglich machte. Der Baumeister war der 32-jährige Georg Schöttle aus Stuttgart im Königreich Württemberg.

Das 1855 erbaute Goldachviadukt

Katastrophale Appenzellerkriege
Aber ganz so idyllisch war es hier nicht immer. Zwischen 1401 und etwa 1410 gerieten das Schweizer Hinterland des östlichen Bodensees, Bregenz und das Rheintal bis hinauf nach Feldkirch in fürchterliche Kriegswirren. Sie werden als »Appenzeller Kriege« bezeichnet. – Vorausgegangen waren rund eine Generation lang Versuche von Appenzeller Dörfern, vom Abt von St. Gallen unabhängiger zu werden. Der Versuch des Abts, seine hergebrachten Herrschaftsansprüche durchzusetzen, führte 1403 zum offenen Krieg. Den ersten Schlachterfolg errangen die Appenzeller im »Loch« unterhalb Vögelinsegg am 15. Mai 1403. Darauf wechselte die Stadt St. Gallen ins Lager der siegreichen Appenzeller. Die Appenzeller erhielten auch offene Unterstützung durch rund 600 Berufskrieger aus dem verbündeten Schwyz. Der Schwyzer Hauptmann Löry führte im ersten schlimmen Kriegsjahr von seinem Hauptquartier in Speicher aus den Oberbefehl. Er starb an den Folgen eines Pfeilschusses, seine Leiche wurde in einen Sack eingenäht auf einem Pferd zur Beerdigung in Einsiedeln gebracht. Auch seine Nachfolger im Oberkommando waren Hauptleute der Schwyzer. Den Abt hingegen stützten Bündnisse mit dem Herzog von Österreich und mit den Reichsstädten und vielen Adligen rund um den Bodensee.
Das halbe Dutzend Jahre nach Vögelinsegg wurde für die Landschaft zwischen Sitter, Glatt und Bodensee desaströs. Die Appenzeller und ihre Verbündeten waren strategisch im Vorteil, denn sie verfügten über rund dreimal soviel jederzeit einsetzbare Kämpfer wie die Gegenseite. Beide Seiten waren gut gewaffnet, sie führten sogar erste Artilleriegeschütze mit. Die »appenzellische« Soldateska verbreitete Terror, sie plünderte und verwüstete die Höfe und Dörfer, die sich nicht willig befreien lassen und Tribut zahlen wollten. Vergeltungsschläge der Äbtischen mit ihren Verbündeten trafen die bäuerliche Bevölkerung genauso.
Bollwerk auf der Rässenhueb
Rasche Informationen und blitzschneller Einsatz von Verstärkung machten die Schwyzer und Appenzeller schlagkräftig. Sie konnten Trupps innerhalb der Grenzen ihres Gebiets schnell mobilisieren und auf von ihnen kontrollierten Wegen zum Einsatz gegen die Äbtischen bringen. Noch effizienter wurde das durch eine ganze Reihe fester Stellungen. Das waren einige wenige Burgen, die sie wohl meist durch List, Bestechung oder Verrat hatten übernehmen können, vor allem aber waren es Anhöhen, wo sie Verschanzungen aus übereinander gelegten Baumstämmen anlegten. Eines dieser Bollwerke wurde auch auf dem Rässebüel errichtet. Damit in Sichtkontakt waren zwei von der Appenzeller Seite kontrollierte Burgen: Burg Rorschach in Rorschacherberg, später »Sankt Annaschloss«, und Burg Sulzberg in Untereggen, schon bald danach »Möttelischloss« genannt. In den Burgen und Verschanzungen waren je etwa 30 bis 60 Mann postiert. Selbst bei schlechtester Sicht konnten zwischen diesen Punkten Meldeläufer Botschaften in kürzester Zeit vermitteln und nötigenfalls Verstärkung aufbieten.

Der Rässebüel zwischen Blumenhalde (1) und Eisenbahnviadukt (2) – vom Möttelischloss (Burg Sulzberg) in Untereggen aus gesehen

Plünderungen und Wirtschaftsterror
Die Bollwerke waren für die Kriegführung der Aufständischen und ihrer Schwyzer Verbündeten entscheidend. Sie waren zunächst Rückzugsorte für jene Kämpfer, die in den beanspruchten Gebieten Lebensmittel und Vieh zusammenraubten oder auch Menschen und Waren kidnappten, die Lösegeld erhoffen ließen. Ausgangspunkt und Zuflucht waren sie auch für jene »appenzellischen« Brandschatzer, die zahlreiche Häuser, unter vielen anderen Orten in Goldach, Tübach und Mörschwil anzündeten. In Mörschwil blieben allein die ins Appenzeller Landrecht aufgenommenen Höfe Riederen und Staag verschont.
Maßgebend für die Zukunftspläne der Schwyzer und Appenzeller waren wirtschaftliche Aspekte. Der Markt in Appenzell sollte zu Lasten des St. Galler Markts gefördert werden. Der Güterverkehr stützte sich zu Lande noch vorwiegend auf Saumwege. Von den Bollwerken und Burgen aus waren die Wege in der Umgebung und der Bootsverkehr auf dem Bodensee zu überblicken. Die Belegschaften der Bollwerke behinderten Transporte nach St. Gallen und schützten jene nach Appenzell.
Nach der Niederlage der »Appenzeller« und ihrer Verbündeten bei Bregenz Anfang 1408 war der Ruf ihrer Unbesiegbarkeit dahin. Der Terror im Namen der Befreiung schwächte sich ab. Die Abtei und die Appenzeller fanden nach und nach den Weg zu einem friedlichen Nebeneinander. Das gelang unter anderem, weil Appenzell schon 1411 als »Zugewandter Ort« in die Eidgenossenschaft aufgenommen wurde und sich auch die Abtei und die Stadt St. Gallen immer stärker an die Eidgenossen anlehnten.
Cristan Graf und Tübach
Gut zwei Jahrzehnte nach der schlimmsten Zeit der »Appenzeller Kriege« tauchen in Dokumenten zwei Namen von Appenzellern auf, die nahe der Rässenhueb, auf heutigem Gemeindegebiet von Tübach und von Mörschwil lebten. 1435 wird ein Hans Hafner genannt. Noch wichtiger wird Cristan Graf, der von 1434 an als Eigentümer von Gütern in beiden heutigen Gemeinden genannt wird. Waren Hafner und Graf zuerst im Zuge der Appenzeller Kriege in die Gegend von Tübach gekommen, gar als Krieger unter Schwyzer Oberbefehl? Das wird sich nie klären lassen. Aber in der Gegend nahe der früheren Rässenhueb sollte Cristan Graf unvergessen bleiben. (Fortsetzung folgt.)

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