Trudi muss anders sehen lernen

Eine Makulaerkrankung krempelte das Leben von Trudi Dudler völlig um. Ihr Blickfeld verwandelt sich immer mehr in eine trübe, verschwommene Welt. Damit umzugehen, ist nicht einfach. Ihrem Humor und ihrer Geselligkeit hat sie es zu verdanken, dass sie trotz allem noch überall mitmacht.

Wenn im kleinen Fischerdorf Altenrhein ein Fest gefeiert wird, ist Trudi Dudler mittendrin. Das war schon immer so. In jungen Jahren holte sie beim geselligen Beisammensein ihre Handorgel hervor, unterhielt die Leute mit lüpfigen Melodien und bot jedem Alleinunterhalter die Stirn. So etwas wie Künstliche Intelligenz kannte sie schon damals, denn auf ihrer Orgel waren verschiedene Melodien gespeichert. Sie musste nur noch so tun, als ob sie spielte. Dabei half ihr schauspielerisches Talent. Trudi liebt es auch sonst im Leben, in eine andere Rolle zu schlüpfen. Verkleidet als alte Dame mit pompösem Hut oder als verschmähter Liebhaber sorgte sie an so manch einer Veranstaltung für einen Überraschungsauftritt und erntete Applaus und schallendes Gelächter. Dies macht sie heute noch, obwohl ihre Augen nicht mehr klar sehen.

Ein fieser Spielverderber
Auch wenn das locker und fröhlich klingt, hinter Trudi Dudler liegt eine schwere Zeit. Seit über zehn Jahren macht ihr die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) das Leben schwerer als sie es sich im Alter gewünscht hätte. Die Krankheit bewirkt den schrittweisen Abbau ihres Blickfeldes. Es gibt viele Varianten davon. Trudis Erkrankung ist nicht heilbar. Im besten Fall kann sie medikamentös verzögert werden. Die 82-jährige lässt sich daher alle drei Monate Injektionen in die Augen spritzen und hofft so, das Fortschreiten der Krankheit zu bremsen.

Eine trübe Linse
Doch was ist überhaupt eine Makula-Erkrankung? Ganz vereinfacht sieht das folgendermassen aus: Die Augen besitzen so etwas wie eine Kamera. Der wichtigste Teil dieser Kamera ist die Makula. Sie sitzt mitten im Auge und hilft, Dinge klar zu sehen. Wenn die Makula krank wird, ist das so, wie wenn die Linse der Kamera verschwommen ist oder als ob man durch eine verschmutzte Brille schaut. Denn die Makula ist dafür zuständig, dass das Gehirn klare Bilder erhält. Wenn man zum Beispiel ein Buch liest oder ein Gemälde betrachtet, fokussiert die Makula das Licht genau auf den Punkt, den man gerade ansieht, um alle Details zu erkennen. Ist die Makula erkrankt, wird der Blick «unscharf» oder sogar «löchrig».

Lernen, im Unklaren zu leben
«Ich gehe rasch einkaufen.» Für Trudi ein Satz, der früher selbstverständlich war. Heute nicht mehr. Zum Einkaufen muss ihr Mann Franz mit, weil sie nicht mehr Auto fahren kann und die Lebensmittel im Regal nicht mehr erkennt. Überhaupt hat sich auch das Leben von Franz Dudler grundlegend geändert: «Jetzt weiss ich, was Trudi immer alles für uns gemacht hat. Und das war für unsere Familie einfach selbstverständlich.» Sein Alltag ist strenger geworden. Er hilft mit im Haushalt, chauffiert Trudi zu ihren Arztterminen oder kauft mit ihr ein. Franz bewundert seine Frau im höchsten Mass: «Ich höre sie nie jammern oder klagen. Trudi hat fast immer gute Laune. Ich an ihrer Stelle wäre mit Sicherheit griesgrämiger.»

Die Mitte von Trudis Blickfeld ist getrübt, am Rand sieht sie noch klar. Dreht sie den Kopf also zur Seite, kann sie Menschen oder Gegenstände erkennen. Lustigerweise auch mal einen Fussel, der auf dem Boden liegt. Den Haushalt macht sie immer noch so gut es geht und mit Unterstützung ihres Mannes. Sie backt sogar Schwarzwäldertorten. Auch die Blumendekoration lässt sich Trudi nicht nehmen und bepflanzt die Geranientöpfe an der Hausfassade. Im Dorf, wo Trudi sich auskennt, geht sie ohne Begleitung spazieren: «Ich liebe es, zum See hinunterzuschlendern, um den Sonnenuntergang zu geniessen.»

Was Trudi unheimlich fehlt, ist das Fahrradfahren, das sie über alles liebte. Und das Lesen. Vor allem von Klatschheftchen. Fernsehen schaut sie von nahem oder noch lieber hört sie Radio. «Ich glaube, meine restlichen Sinne werden immer stärker, plötzlich nehme ich alle möglichen Vogelstimmen wahr.» Trudi lenkt sich mit Schönem ab und macht das, was ihr guttut. Sie kann sogar dank übergrossen Karten noch mit Franz jassen und liebt es, draussen zu sein und jetzt gerade im See zu baden. Das geht zum Glück noch ohne Hilfe.

Unterschiedliche Reaktionen
Trudi Dudler findet es wichtig, offen mit ihrer Krankheit umzugehen, so dass die Dörfler*innen informiert sind. «Manchmal haben die Leute das Gefühl, ich sei unfreundlich, weil ich sie nicht grüsse. Aber ich erkenne die Menschen einfach nicht mehr oder nur an ihren Stimmen.» Sie fragt jeweils direkt nach: «Hoi, wer bist du?» Trudi nimmt auch heute noch an jedem Fest teil und möchte damit allen zeigen: «Ich bin immer noch hier!»

Augen schützen und kontrollieren
Bis jetzt benutzt Trudi keine Hilfsmittel, ausser einer Lupe. Hilfe könnte sie sich bei der Organisation «Retina Suisse» holen, die Patientinnen und Patienten beim Zugang zu Hilfsmitteln und bei der Bewältigung der Diagnose und deren Folgen unterstützt.

Die Organisation rät zu regelmässigen Kontrollen beim Augenarzt. Bei einem Selbsttest (Amsler-Gitter) kann man ausserdem feststellen, ob eine Makulaerkrankung vorliegt. Erscheinen die Gitterlinien beim Betrachten verschwommen, wellenförmig, verzerrt, unterbrochen oder fehlen sie ganz, sollte man dringend einen Augenarzt aufsuchen.

Mit einem Amsler-Gitter-Test stellt man eine Erkrankung der Makula fest. Links: normales Sehen, Mitte: dunkler Fleck, rechts: verzerrte Linien.

Trudi Dudler ist auf einem Bauernhof aufgewachsen. «Wir arbeiteten oft und lange in der prallen Sonne am Hang. Immer ohne Sonnenbrille.» Ob das einen Einfluss auf ihre jetzige Krankheit hat, kann sie nicht beurteilen. Sie erbte die Krankheit von Ihrem Vater. Einen Rat möchte sie jungen Menschen trotzdem geben: «Tragt Sorge zu euren Augen und schützt sie bei grellem Sonnenschein mit einer Sonnenbrille.» Was die Krankheit angeht, möchte sie anderen Betroffenen Mut machen: «Lässt euch nicht hängen und versucht, das Leben auf eine andere Art zu geniessen. Seid offen und ehrlich im Umgang mit der Krankheit, das bringt euch Verständnis und Hilfsbereitschaft bei euren Mitmenschen ein.»

Text/Bild: Sandra Bischof-Cavelty

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