Das Wort »Kultur« hat lateinischen Ursprung. Es hat mit Ackerbau und Viehzucht, aber auch mit Pflege und ehrender Erinnerung zu tun. Ein ganz neues Beispiel für Kultur in diesem Sinn steht schon fast vollendet in Mörschwil, an der Kantonsstraße von Rorschach nach St. Gallen am Näppenschwilerbach, keine 100 Meter südlich der Abzweigung der Straße nach Näppenschwil.
Höhere Rindstöchter
Jugendliche Rinder haben es gut, ganz besonders die weiblichen. Sie heißen Färsen, in unserer Region »Galtlig«. Sie sind schon fast ausgewachsen und haben im Alter von etwa 18 bis 27 Monaten die angenehme Aufgabe, zu reifen und zu gedeihen, bevor sie ihr erstes Kalb gebären. Als angehende Kalbsmütter brauchen sie gutes Gras und, wie alle Wiederkäuer, viel frisches Wasser.
Weidebrunnen noch ohne Brunnensäule
Guido Schildknecht der Ältere aus Beggetwil bewirtschaftete das Landstück zwischen Näppenschwil und dem Gebiet beim ehemaligen Restaurant »Schöntal« seit Mitte der 1970er Jahre und erwarb es 1980. Schon 1979 fasste er dort entspringendes Wasser zur Speisung eines neuen Weidebrunnens. Der damals von Norbert Ammann hergestellte hölzerne Brunnentrog kam in die Jahre. Als fast 80-jähriger Seniorbauer hat Guido Schildknecht nun erneut einen Brunnen eingerichtet, zur Freude von Passanten und als Wasserspender für Weidevieh. Ganz fertig wird der Brunnen bald durch das Aufstellen der Brunnensäule aus zähem Eibenholz.
Holz vom Nonnensteg mit Kupferbecken
Der Brunnentrog repräsentiert altes Handwerk und ist ein regionales Gemeinschaftswerk. Gewachsen ist der Fichtenstamm im Wald von Schildknechts im Steinertobel, nahe dem »Nonnensteg«. Josef Hanimann vom Bauerngut Meggenmühle hat ihn gefällt, der größere Teil des Stammes ist für die Fassade seines Mehrfamilienhaus-Neubaus an der Bahnhofstraße 3, mitten im Dorf Mörschwil, verarbeitet worden. Den Trog haben drei ältere Landwirte und Handwerker aus der Region gestaltet: Gallus Locher in Rorschacherberg, Leo Stauber in Mörschwil und Guido Lehner in Goldach.
Wie zu Pfahlbauerzeiten
Eigentlich ist der Brunnen ein »Einbaum«, wie sie ähnlich schon vor über 6000 Jahren am Bodensee benutzt wurden. Aber er dient nicht als altertümliches Boot, das kein Wasser hereinlassen, sondern als Trog, der kein Wasser verlieren darf. Das Kalfatern mit Pech und Feuer, wie es der traditionelle Schiffsbau anwendet, hätte den Jungkühen die Lust am Wasser vergällt, und so ist die Wasserdichtigkeit durch einen Kupfereinsatz von Spengler Lehner gesichert. Der einfachere ältere Brunnen hat 40 Jahre durchgehalten, der neue Brunnen könnte, mit gegen 300 Mannsjahren Arbeitserfahrung der vier Hersteller im Hintergrund, deutlich länger Bestand haben.
Brunnennamen birgt Geschichte
Die Mörschwiler Brunnen hatten stets Namen. Der wichtigste Dorfbrunnen, jener am Häftlibach, hieß »Johannesbrunnen«. Auch der neue Weidebrunnen trägt stolz den Namen »St. Scholastika« eingeschnitzt. Der Name passt gleichermaßen zum Herkunftsort des Holzes wie zum Standort. Dort wo der Baum gewachsen ist, nahe der Mörschwiler Steinachgrenze zur Gemeinde Berg, dürften schon vor rund 800 Jahren die Waldschwestern vom Steinertobel eine Weide für ihre zwei oder drei Kühe gehabt haben, vielleicht dort auch Gemüse angebaut haben. Nach wechselvoller Geschichte vereinigten sich 1617 das Waldschwesternhaus Steinertobel und ein zweites Mörschwiler Waldschwesternhaus oberhalb des Häftlibachs im Hundtobel, hart an der Mörschwiler Grenze zu Tübach. Beide Klösterchen gehörten damals bereits zur Ordensgemeinschaft der Franziskanerinnen und bezogen nun das neu gebaute Kloster »St. Scholastika« oberhalb des heutigen Hauptbahnhofs in Rorschach. Als dort der Qualm der Dampflokomotiven und der Alltagslärm zunahmen, zogen die Schwestern 1905 ins im Jugendstil neu gebaute Kloster oberhalb Tübach, das den Namen »St. Scholastika« noch immer trägt.
Erinnerung an die Fürstabtei St. Gallen
Zwar war Scholastika keine Heilige aus dem Umfeld von Franziskus von Assisi, aber zum Fürstenland, das rund 1000 Jahre lang das Kernland des St. Galler Benediktiner-Klosterstaats bildete, passt der Name der leiblichen Schwester des 547 verstorbenen Ordensgründers Benedikt von Nursia ideal. Bestens passt der Name auch zum Brunnen, der unmittelbar am Näppenschwiler- oder Katzenbach steht.
Alte Hauptstraße des Fürstenlands
Das Brunnenwasser plätschert nur ein paar Schritte entfernt von jener Stelle, an der zuerst die ältesten Fahrstraßen den Bach überquerten und an der 1776 die von Abt Beda in Auftrag gegebene »Fürstenlandstraße« vorbeiführt. Jahrhundertelang kamen alle Bewohner des benediktinischen Gallusklosters oder der nach dem Kloster benannten Stadt St. Gallen öfter im Leben an dieser kleinen, wichtigen Brücke in der Mitte zwischen dem Bodensee und der Stadt vorbei. Die erste Kantonsstraße übernahm 1841 weitgehend die Trasse der äbtischen Straße, zu sehen ist der Brunnen auch aus den seit 1972 auf der Nationalstraße vorbeirasenden Fahrzeugen.
Galtlig-Sommerfrische auf der Ochsenhöhi
Die vier Jungkühe, die sich als erste am Wasser des neuen Brunnens laben konnten, sind von Juni bis September im Sommerurlaub. Sie durften auf die »Ochsenhöhi« fahren, eine Alp nördlich von Gonten auf der Hundwiler Höhe. Auf 1200 Metern über Meer weiden und wachsen sie dort von allem Verkehrslärm entfernt weiter, zusammen mit gegen 60 Gleichaltrigen. Was sie nicht wissen ist, wie eng die Ochsenhöhi mit Mörschwil verbunden ist – die Alp gehörte nämlich von 1918 bis 1931 der landwirtschaftlichen Genossenschaft Mörschwil. In der Rangordnung der Rinder auf der Ochsenhöhi habe die vier Beggetwiler Galtlig eine besondere Stellung: sind die einzigen von rund 60 Tieren auf der Alp, welche ihre Hörner behalten dürfen. Im Herbst werden die vier Halbschwestern, Töchter des redlichen Stiers »Carlo« aus Ebnat-Kappel, in den modernen und großzügigen Anbindstall von Matthias Schildknecht in Beggetwil zurückkommen. Auf für sie unbegreiflichem Weg werden sie dort bald trächtig werden und rund 40 Wochen später das erste Kälbchen zur Welt bringen. Dann beginnt der ernste Alltag ihres Erwachsenenlebens als Milchkühe.